Vorwort

 

Es war der Anfang der 1970er Jahre und der französische Schriftsteller Jules Verne (1828-1903), Verfasser utopischer halbwissenschaftlicher Abenteuerromane, erlebte mit einer Flut von Neuauflagen sowie diversen Verfilmungen nicht nur eine Renaissance, sondern einen regelrechten Boom. Ich ging damals ungefähr in die fünfte Klasse und diese „neuen Bücher“ füllten zu Hause bald mein Regal. Die Wissenschafts- und Technikvisionen waren spannend, doch vor allem faszinierten mich die großartigen und phantastischen Reisen, die Jules Vernes Helden auf, über, unter und außerhalb der Erde unternahmen. Dabei ließ mich der große Klassiker der Weltreise um die Erde in 80 Tagen immer verhältnismäßig kalt, da es dort hauptsächlich darum geht, mit so rasender Geschwindigkeit wie möglich Entfernungen zurückzulegen. Der sehr vielseitigeren Route der Weltreise zu folgen, die der legendäre Kapitän Nemo und seine ungebetenen Passagiere, der französische Meeresbiologe Professor Pierre Aronnax, sein Diener Conseil und der kanadische Harpunier Ned Land, in 20.000 Meilen unter den Meeren (veröffentlicht 1870) im Unterseeboot Nautilus unternahmen, war ungleich interessanter für mich. So keimte langsam die Idee auf, diese Route irgendwann einmal nachzureisen. Und zwar nicht nur mit Leuchtstift auf den Buchseiten. Natürlich auch nicht im Unterseeboot – da sieht man ja nichts. Aber die Länder und Gegenden, die Professor Aronnax vom Ausguck aus sichtet und benennt, bilden eine so faszinierende Gesamtheit, dass ich mir immer wieder ausmalte, wie großartig es sein müsste, sie kennenzulernen – über dem Meer, und auch ohne Fischforscher zu sein.

Mein Studium der Slawistik, Iberoromanistik und Arabistik war eine logische Konsequenz aus der Berufung, fremde Sprachen zu lernen und ferne Länder zu sehen. Meine Berufslaufbahn führte mich bis nach Malaysia, wo ich von 1995 bis 2000 lebte. Auch danach ließ mir meine Arbeit als Vertretungslehrerin an einer Gesamtschule genügend Raum fürs Reisen. Der Traum von einer wirklich langen, einer Weltreise, blieb.

Von den Schulpausen, in denen ich die Nautilus 20.000 Meilen unter den Meeren in Gedanken begleitete, und der Verwirklichung meines Kindheitstraumes vergingen Jahrzehnte. Für eine nichtgesponserte, auf sich selbst gestellte Mittelstandsfrau ohne finanzielle Gönner, die sich jeden Pfennig/Cent selbst verdienen muss, ist es schwierig, sich die entsprechenden wirtschaftlichen Voraussetzungen und Zeitfenster zu schaffen. Ebenfalls nicht zu unterschätzen ist, dass es auch erst einmal das entsprechende Selbstbewusstsein und die Akzeptanz des sozialen Umfeldes braucht. Obwohl auf dem Gebiet längst weibliche Vorbilder vorhanden sind, fand ich, dass Weltreisen eine Männerdomäne geblieben zu sein schien. (Genau wie in den Abenteuerbüchern Jules Vernes die Anzahl der weiblichen Protagonisten gegen Null tendiert, nicht nur in dem, um das es hier geht.)

Irgendwann Ende 2006 beschloss ich von einem Tag auf den anderen, dass ich nicht einer von so vielen bleiben wollte, die ihr Leben lang von einer Weltreise träumen, aber nie losfahren. Nachdem sich das „Wann“ also konkretisiert hatte, stellte sich als nächstes die Frage nach dem „Wie“. Zu Wasser? Am liebsten. Aber: Reisen auf Frachtern nach dem Motto „Hand gegen Koje“ ist im Zeitalter der globalisierten Container-Schiff-Fahrt leider nicht mehr im Programm. Eine Segelyacht? Für mich selbst bei größter Arbeitsam- und Sparsamkeit bis ans Ende meines Lebens außer Reichweite; außerdem muss man dafür wohl geboren sein. Crewing auf Yachten? Möglich, aber wegen des Unsicherheitsfaktors und der Unplanbarkeit nicht machbar. Mittel und Zeit waren zwar vorhanden, aber nach wie vor nicht in unbegrenzter Menge. Und ich wollte mich nicht in totale Abhängigkeit von irgendwelchen Skippern begeben, so wie es Professor Aronnax, wenn auch unfreiwillig, mit Kapitän Nemo gegangen war.

2007 verabschiedete ich mich vorübergehend von meinem Arbeitsplatz; es wurde ein Abschied für mehrere Jahre.

Die Weltreise auf der Spur der Nautilus wurde in sechs großen Etappen bewältigt. Um die Entfernungen zu überbrücken, die die Nautilus zwischen Inseln und Kontinenten zurücklegt, waren drei Round-the-World-Tickets nötig. In den Ländern selbst griff ich auf die bewährten öffentlichen Verkehrsmittel zurück. Die Länder rund ums Mittelmeer bereiste ich größtenteils mit dem Fahrrad; auf der letzten Etappe in Nordeuropa war ich mit dem Motorrad unterwegs. Zu meiner großen Freude ergab es sich, dass in einigen Ländern das Schiff als öffentliches Verkehrsmittel noch großflächig eingesetzt wird: etwa auf den Salomonen, in Papua-Neuguinea und in Indonesien, in Brasilien natürlich und, man lese und staune, auf den Bahamas. Ein unvergessliches Erlebnis war die Reise zu den Tuamotu- und Marquesas-Inseln im Südpazifik an Bord des legendären Passagierfrachters Aranui.

Meine Reise orientierte sich streng an der Strecke, die von November 1867 bis Juli 1868 (ich brauchte wesentlich länger als neun Monate) von der Nautilus abgefahren wurde, von dem Augenblick, als Kapitän Nemo Professor Aronnax, Conseil und Ned Land widerwillig an Bord nimmt, bis zur geglückten Flucht der drei. Auch meine Reise beginnt also in Japan und endet in Norwegen. Professor Aronnax sichtet und beschreibt in seinem „Bericht“ insgesamt 51 Länder und abhängige Gebiete. Leider habe ich die Route nicht völlig lückenlos nachreisen können: Saudi-Arabien und Algerien bleiben mir verschlossen, da es mir trotz vielfältiger Bemühungen nicht gelang, für diese beiden Länder Touristenvisa zu bekommen. Die einzelnen Routenziele werden kapitelweise beschrieben, wobei die geographischen und historischen Details, die Jules Verne jeweils durch Professor Aronnax vortragen lässt, als Aufhänger dienen. Entsprechende Zitate aus dem Buch sind jedem meiner Kapitel vorangestellt und werden im Text wieder aufgegriffen. Der Erarbeitung meiner Reiseroute liegt die kritische Neuübersetzung 20.000 Meilen unter den Meeren von Volker Dehs zugrunde (erschienen bei Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007), der auch die Zitate entnommen sind. Jules Vernes Buch diente mir so also auch als Reiseführer.

In einigen der bereisten Länder habe ich Freunde und Bekannte; sehr gelegentlich bescherte mir der Zufall einen Reisekameraden. Insgesamt jedoch habe ich die gesamte Reise allein und mit minimalem Budget geplant und durchgeführt. Das Alleinreisen als Frau stellt in vielen Ländern besondere Anforderungen und man sieht sich häufig mit unerwarteten Situationen und Problemen konfrontiert. Meine Erfahrungen als weiblicher Solo-Traveller mittleren Alters waren mitunter anekdotenhaft, aber nie wirklich negativ. Die Nachteile dieser Art des Reisens sind hauptsächlich finanzieller Natur. Die Vorteile sind unschätzbar. Wenn man zu zweit oder gar zu mehreren ist, läuft man Gefahr, sich viel zu sehr miteinander zu beschäftigen. Reist man allein, ist man zwangsläufig darauf angewiesen, den Kontakt zu den einheimischen Menschen zu suchen und bekommt ihn auch viel leichter, als Frau vor allem zu einheimischen Frauen, und die sind überall die Bewahrerinnen von Kultur und Traditionen. Für eine einzelne Frau findet sich auch immer noch ein Notsitz im Bus, ein freier Hocker in der Garküche, ein kleines Plätzchen für die Hängematte oder das Zelt.

Frauen als Bewahrerinnen von Kultur und Traditionen – viel Raum nimmt in all meinen Kapiteln das Thema Essen ein, einheimische Gerichte und die typische Küche. Der berühmte Journalist Tiziano Terzani beklagte einmal, dass in Reiseberichten und Reiseabenteuern fast nie darüber geschrieben würde, was die Menschen essen. Diese Kritik habe ich mir zu Herzen genommen. Die Erforschung der Unterwasserwelt, welches die eigentliche Motivation für die Weltreise von Kapitän Nemo und die Begeisterung des Professor Aronnax ist, interessierte mich nur am Rande; da ich jedoch Sporttaucherin bin, bleibt dieser Aspekt auch nicht unberücksichtigt.

Ich habe versucht, alle Länder möglichst wertungsfrei und ohne Vergleiche zu würdigen. Viele phantastische Naturerlebnisse und architektonische Wunder werden mir für immer unvergesslich bleiben; am meisten beeindruckt haben mich jedoch die Menschen. Wo immer ich hinkam, begegneten mir Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft, und einmal mehr kam ich zu der Überzeugung, dass alle Menschen, egal, wo auf der Welt sie wohnen, im Grunde nichts anderes wollen, als ehrlich und friedlich zu leben, unter den Voraussetzungen, die ihr Land ihnen bietet. Ich habe die Länder so beschrieben, wie ich sie vorfand. Doch die Zeit bleibt nicht stehen. Der Sudan ist nicht länger das größte Land Afrikas. Samoa, einst Trauminsel „am Ende der Welt“, wechselte am 29. Dezember 2011 auf die westliche Seite der Datumsgrenze. In anderen Ländern waren die Ereignisse um ein vielfaches dramatischer. Fassungslos musste ich mitansehen, wie Libyen und Jemen in Chaos und Bürgerkrieg versanken. Der Arabische Frühling rüttelte auch Ägypten und Tunesien gewaltig durch. Japan wurde zum zweiten Mal nach 1945 von einer atomaren Katastrophe ungeahnten Ausmaßes erschüttert. Wenige Tage vor meiner Ankunft erschütterte Norwegen die monströse Tat eines rechtsradikalen Massenmörders, der 77 Menschen zum Opfer fielen.

Doch auch auf der Haben-Seite gibt es einen Eintrag. 2009 ging nach 26 Jahren der Bürgerkrieg in Sri Lanka auch formell zu Ende, das Land wurde wieder geeint.